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GASTARBEITER

Unsere Türken

Montag 5. September 2011, von Claus Leggewie

Vor 50 Jahren warb Deutschland die ersten türkischen Arbeitskräfte an. Eine der größten Völkerwanderungen der Nachkriegszeit begann. Integrationsexperte Claus Leggewie zieht Bilanz.

Das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei, dessen Unterzeichnung am 31. Oktober 1961 einen der größten Völkerwanderungen der Nachkriegszeit einleitete, jährt sich 2011. Das in dem Vertrag verankerte Rotationsprinzip funktionierte bei den türkischen Migranten ebenso wenig wie bei „Gastarbeitern“ aus anderen Ländern, mit denen ähnliche Abkommen geschlossen worden waren. Max Frischs zu Tode zitierter Satz „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen“ war nicht ganz falsch, aber die Motivlage war komplizierter: Vor allem die Entsendeländer wollten den Deal, um Devisen ins Land zu ziehen und das Bilanzdefizit auszugleichen, das namentlich deutsche Exporte in den Mittelmeerländern gerissen hatten. Und sie wollten den Druck der unqualifizierten, in die Städte drängenden Arbeitslosen und Unqualifizierten nach außen kanalisieren.

Das passte deutschen Unternehmen ins Kalkül, denen nach dem Bau der Mauer Arbeitsuchende aus der DDR fehlten; skeptischer betrachteten viele Manager den Andrang unqualifizierter Arbeit, der Rationalisierungsinvestitionen etwa in der Autobranche auf die lange Bank schob und den Ausfall des Arbeitskräftezustroms aus der DDR nach dem Bau der Mauer kompensieren half. 1973 liefen die Abkommen aus. Billige Arbeitskraft war nicht mehr gefragt, Rationalisierungen kamen an die Tagesordnung. Nur die Rotation funktionierte immer noch nicht: als ein schönes Beispiel „nicht-intendierter Folgen von Politik“ holten die alleinstehenden Türken nun ihre Familien und verlegten ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschland.

Das Jubiläum dieser beiderseits ungewollten Emigration wird im Lauf des Jahres 2011 mit einigem Pomp und viel Schmalz gefeiert; die dritte Diplomaten- und Politikergeneration wird sich gegenseitig versichern, dass unter dem Strich alles gut gelaufen ist – trotz der ermordeten Türken von Solingen, trotz Sarrazins Attacke auf Kopftuchmädchen und Schulversager, trotz Necla Keleks Rede vom integrationsunfähigen Islam, trotz der Bitterkeit mancher Gastarbeiter der ersten Stunde. Dagegen wird man politisch korrekt (und mit gutem Recht) süffige Erfolgsgeschichten von Aufsteigern der zweiten bis vierten Generation setzen, darunter die hippen Kanaken der Musik- und Comedy-Szene, man wird auch die tatsächliche Schwäche des fundamentalistischen Islam herausstellen und die letztlich erfolgreiche Germanisierung der Kulturvereine, die heute genauso konservativ sind wie die schwarz gebliebenen Ortsvereine der CDU/CSU. Hinter den Schablonen werden die gemischten Gefühle und individuellen Lebensläufe verschwinden, also die interkulturelle Dimension, die den „Gruppismus“ (Rogers Brubaker) eigentlich ausschließen sollte.

Wer möchte da Spielverderber sein, wenn die wirtschaftliche Bilanz unterm Strich für die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen genauso aufgeht wie im Gros der transnationalen Haushalte? Bei der Emigration geht es nun einmal, verkaufte Bräute eingeschlossen, um Lira und Euro. Und dass es Integrationsversagen in vielen Fällen gegeben hat und gibt, welchen nüchternen Analytiker von Migrationsprozessen könnte das ernsthaft wundern?

Ebenso emotionslos wird man zur Kenntnis nehmen, dass es mittlerweile viele jüngere Türken aus denselben Gründen in eine Heimat zurückzieht, die sie nicht besser kennen als deutsche Antalya-Urlauber. In ein Land, das sich einem Bestseller des vergangenen Jahres zufolge gerade selbst abschafft, will keiner mehr einwandern, zumal die Türkei in Wachstumsraten boomt, von denen auch Deutschland nur träumen kann.

Jenseits der üblichen Unglücke und kaum vermeidbaren Problemfälle wird dann aber klar, was wirklich schiefgelaufen ist. In einer Betriebsanleitung für Deutschland schärfte man den Türk Almanlar Mitte der 1960er- Jahre ein: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein nationalistischer Staat. Die dort lebenden Deutschen, sind, genau wie wir Türken, Nationalisten und Feinde des Kommunismus.“ Deshalb sollte der Gastarbeiter sich ordentlich aufführen und „seine Identität bewahren“.

Passé ist der Kommunismus, geblieben ist der beiden Seiten gemeinsame Ethnozentrismus, der es nicht nur Sarrazinisten anhaltend schwer macht, sich einen deutschen Muslim türkischer Abstammung vorzustellen, sondern auch vielen Deutsch-Türken selbst.

Die Einbürgerungsquote ist bescheiden und sie steht unter der Hypothek, dass sich Zigtausende volljährig werdende Türkinnen und Türken zu entscheiden haben, ob sie für die deutsche oder die türkische Staatsangehörigkeit optieren sollen. Die Übertragung des American Dream, man könne den deutschen Pass (und sonst keinen) nehmen und trotzdem Bindestrichdeutscher bleiben, ist gescheitert – noch ein unbeabsichtigter Betriebsunfall der Integrationspolitik. Auch ein deutsch-türkischer Heiratsmarkt, der das archaische Gesetz der Endogamie knackt, besteht kaum.

Man bleibt also gerne unter sich. Einheimische klammern sich, trotz unterdessen millionenfachen „Migrationshintergrunds“, an die deutsche Kulturnation; sie entsenden Türkischsprecher in Deutschkurse, was durchaus in deren Interesse ist, weigern sich aber mit derselben Beharrlichkeit, Türkisch zu lernen. Es ist kaum zu begreifen, welche Chancen ausnahmsweise funktionierender Zweisprachigkeit in wechselseitigem Kulturstolz vertan worden sind. Denn auch viele Deutsch-Türken denken weiter nicht entfernt daran, ihre Kinder in den Kindergarten zu schicken, sie nicht vom Schwimmunterricht dispensieren zu lassen und sie doch mal zu „deutschen“ Kindergeburtstagen zu schicken.

Man bleibt gerne unter sich

All das geschieht in borniertem Beharren auf der jeweiligen Leitkultur, als sei Identität etwas, das man mit aller Macht gegen die Realien der Lebenswelt verteidigen müsse, nicht etwas, was man sich erst in wechselseitiger Anerkennung verleiht und ständigem Wandel ausgesetzt ist. Auch Migrationsforschung und Kulturwissenschaften haben sich diesem Identitätsfimmel viel zu stark verschrieben statt ihn als ethnischen Wahn zu kritisieren.

Zu Recht regen sich Deutsche (und viele Deutsch-Türken) über Reden eines türkischen Ministerpräsidenten auf, der Assimilation, diesen selbstverständlichsten aller Vorgänge in Einwanderungssituationen, zum kulturellen Genozid aufbläst und Religion, diese großartige Lehrerin der Gleichheit vor Gott, zur Bemäntelung eines archaischen Ehrenkodexes und eines ignoranten Patriarchats auffährt.

Bei all dem kommen vornehmlich die Schwachen und Neugierigen unter die Räder, wie unzählige Familiendramen belegen, die aus fatalen Loyalitätszwängen herrühren. Multikulti hieß niemals Einpferchen in ethnischen Wagenburgen, es bedeutete eine Mehrung der individuellen Wahlfreiheiten. Weil das anstrengend ist, krallen sich viele Deutschen und Türken an Scholle und Kiez fest. Das Problem 1961ff. war nicht, dass Dorfbewohner aus Anatolien nach Norden gezogen sind. Das Problem ist, dass sich viele geweigert haben, im Gallusviertel oder in Neukölln zu Städtern zu werden, und dass viele Einheimische nun ebenso zu, pardon: Kaffern regredieren.

Der deutsch-türkischen Geschichte fehlt die urbane Dimension, die sich nicht an ein ominöses Herkunftserbe klammert, sondern reale Marginalität produktiv macht, Fremdheit kultiviert, Konflikte zivilisiert. „Edge people“ hat der jüdisch-britisch-belgisch-amerikanische Historiker Tony Judt solche Menschen auf der Grenze genannt, und solche Kosmopoliten bereichern den Kulturbetrieb, transnationale Unternehmen, die Nachbarschaften. Leider haben fünf Jahrzehnte Kulturkontakt davon zu wenige Exemplare hervorgebracht.

Ein letztes Versäumnis hängt damit zusammen, und es ist nicht nur akademischer Natur: Es gibt in Deutschland kein wirkliches großes Forschungszentrum, das nicht nur „Integrationsversagen“ (oder -erfolge) von Ex-Gastarbeitern bearbeitet, sondern die Türkei als „global player“ ernsthaft erforscht. Dass Frau Merkel kein Türkisch kann, ist verzeihlich, nicht aber, dass auch die deutsche Außenpolitik auf diesem Ohr taub ist.

Diese Indifferenz hat, neben der beschriebenen Alltagsignoranz und Intoleranz, maßgeblich dazu beigetragen, dass die Türken nun auch nicht mehr in die EU drängen und die Mittelmacht nach anderen Spielfeldern sucht.

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Online ansehen : http://www.fr-online.de/kultur/unse...

Quellen

Source : Frankfurter Rundschau, 15.08.2011

Portfolio

  • Türkische Bergarbeiter in einer Duisburger Siedlung im Juli 1962. Foto: (...)

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