Der türkische Zentralbankchef Erdem Basci hatte einen klaren Rat, als er kürzlich einen Bericht zur Entwicklung der Wirtschaft vorstellte. „Habt Spaß beim Geldausgeben.“ Dabei bedürfen viele Türken dieser Aufforderung gar nicht. Während Amerikaner und Europäer auf die Staatschulden blicken und eine neue Rezession fürchten, boomt die Wirtschaft der Türkei, geben viele Bürger ihr Geld mit vollen Händen aus.
Das können sich die Türken auf den ersten Blick gut leisten. Im ersten Quartal wuchs die Wirtschaft um elf Prozent: „Beim Wachstum haben wir China und Argentinien hinter uns gelassen“, brüstete sich Regierungschef Recep Tayyip Erdogan. „Wir sind die Nummer Eins in der Welt geworden.“
Die Wirtschaft boomt nicht nur auf dem heimischen Markt. Türkische Baufirmen bauen in Russland oder Kasachstan. Die Steuereinnahmen sprudeln. Das Haushaltsdefizit beträgt 2011 voraussichtlich nur zwei Prozent einer Jahreswirtschaftsleistung; die Staatsverschuldung entspricht nur 42 Prozent – Werte, von denen Krisenländer der Eurozone träumen.
Angefeuert vom offiziellem Optimismus und großem Nachholbedarf, geben viele Türken Geld aus, als gäbe es kein Morgen. Im letzten Quartal 2010 legte der Konsum um neun Prozent zu, von Januar bis März um weitere zwölf Prozent – und sorgt für zwei Drittel des Wachstums. Allein in Istanbul machen über 70 riesige Einkaufszentren und Shopping Malls gute Geschäfte.
Anfang März eröffnete Premier Erdogan den Wohn- und Geschäftswolkenkratzer „Saphir von Istanbul“, mit 236 Metern das höchste Gebäude der Türkei. Ende 2012 soll das Zorlu-Zentrum dazukommen, mit Quadratmeterpreisen von bis zu 12.500 Euro für Eigentumswohnungen. Auch Autoverkäufer haben Grund zur Freude. Von Januar bis Juni wurden in der Türkei knapp 290.000 Pkws verkauft – ein Plus von 56 Prozent zu 2010.
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Internationale Währungsfonds (IWF) und Rating-Agenturen warnen vor einer Überhitzung der türkischen Wirtschaft. Die zunehmend nationalistisch auftretende türkische Regierung schlägt Warnungen bisher in den Wind. Eine Wirtschaftskrise könne es vielleicht „im Westen geben“, gab Premier Erdogan zu. Die Türkei aber sei darauf vorbereitet. „Die Krise würde uns überhaupt nicht berühren”, brüstete er sich Ende Juli.
Kaufrausch birgt etliche Schwächen
Auch der Zentralbankchef gibt sich ungerührt. „Wir sehen kein Risiko einer Überhitzung oder harten Landung“, sagte der oberste Bankier. Doch tatsächlich verbergen die glänzenden Fassaden der Istanbuler Konsumtempel etliche Schwächen. Der spektakuläre Boom am Bosporus könnte enden wie viele zuvor - im schlimmsten Fall mit einem lauten Knall.
Die Türkei hat allein in den letzten zwei Jahrzehnten fünf Einbrüche erlebt: 1987, 1993, 1998, 2000 und 2008/2009: Die letzte, der Finanzkrise folgende Rezession war mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um fast 14 Prozent von der Spitze bis zum Boden die stärkste aller in der OECD vereinigten Industrie- und Schwellenländer.
Ein großer Teil des Konsums, einschließlich des Booms auf dem Immobilienmarkt, wird auf Pump finanziert. Das ist im Moment noch kein Problem. Die vergleichsweise kapitalstarken türkischen Banken, die ihre Bilanzen nicht massenhaft mit US-Ramschpapieren oder griechischen Staatsanleihen belastet haben, bewilligen manche Kredite selbst per SMS oder am Geldautomaten. Der Kreditumfang stieg der Bankenaufsicht zufolge in nur einem Jahr um knapp 36 Prozent.
Die Türkei ist mit einer Fläche von über 810.000 Quadratkilometern mehr als doppelt so groß wie die Bundesrepublik Deutschland. Nur rund 24.000 Quadratkilometer davon liegen in Europa.
Gleichzeitig leben schon nach offiziellen Angaben gut 17 Prozent der Türken immer noch in Armut. Es konsumieren auch viele Türken mit geringen oder gar keinen Reserven. Dem Statistikdienst gaben knapp neun Zehntel befragter Haushalte an, sie könnten es nicht leisten, auch nur eine Woche in Urlaub zu fahren.
Fast zwei Drittel hatten kein Geld für „unerwartete Ausgaben“; für knapp 30 Prozent der Haushalte war die Rückzahlung von Konsumkrediten eine „schwere Bürde“. Kommt es zu einer neuen Rezession, wird der Anteil fauler Kredite rapide klettern und die Banken in Schwierigkeiten bringen.
Dem dynamischen Eindruck zum Trotz ist die türkische Wirtschaft weithin unflexibel. Das Arbeitsrecht ist rigide, der Mindestlohn relativ gesehen höher als etwa in osteuropäischen Ländern, mit denen die Türkei konkurriert, so die OECD. Nur gut 40 Prozent der arbeitsfähigen Türken haben Arbeit – die niedrigste Rate in der OECD. Das ist umso brisanter, als die Bevölkerung rasch wächst und viele Türken aus den immer noch armen Regionen in die Städte ziehen.
International wenig konkurrenzfähig
Selbst im Boom der letzten eineinhalb Jahre ging die Arbeitslosigkeit bis Mai lediglich auf gut neun Prozent zurück. Unter jungen Türken lag die Arbeitslosenrate bei knapp 18 Prozent. Nur um den Status Quo zu sichern, müsste die Wirtschaft jedes Jahr um fünf Prozent wachsen.
Außerhalb von Handel und Bauindustrie ist die türkische Wirtschaft international wenig konkurrenzfähig. Das Davoser Weltwirtschaftsforum sieht die Türkei bei der Wettbewerbsfähigkeit weltweit auf Platz 61, auch wegen einer vergleichsweise schlechten Verwaltung.
Der OECD zufolge gibt die Türkei von allen Mitgliedsländern am wenigsten für Bildung aus, sind türkische Unternehmen selten innovativ und weniger produktiv als selbst in europäischen Schlusslichtern wie Portugal oder Griechenland. Gegenüber deutschen Unternehmen liegt die Produktivität gar um gut die Hälfte niedriger.
Für Investitionen braucht die Türkei ausländisches Kapital und Produkte. Die Zahlungsbilanz verzeichnete im Juni ein Rekordloch von gut zehn Milliarden Dollar – doppelt so viel wie ein Jahr zuvor. Dass die Zahlungsbilanz seit einem Jahrzehnt negativ ist, liegt neben dem explodierenden Konsum daran, dass Autohersteller und Chemiefabriken, Textilhersteller, Agrarbetriebe oder Lebensmittelhersteller nicht nur Öl, sondern auch andere Rohstoffe und Vorprodukte importieren müssen, , die sie in der Türkei nicht oder nur zu teuer bekommen. 85 Prozent der Einfuhren sind Rohstoffe oder Vorprodukte. Während Ausfuhren um 19 Prozent stiegen, nahmen Einfuhren um 42 Prozent zu.
Ausländisches Kapital floss in der Türkei mangels Konkurrenzfähigkeit und Attraktivität vieler Industriebereiche dahin, wo schnelles Geld zu machen ist: in den Einzelhandel und in Immobilien, so der IWF. Dazu engagieren sich ausländische Energiefirmen – von Ansaldo aus Italien über die österreichische OMV bis zu RWE im Energiesektor. Der verspricht hohe Gewinne. Schließlich soll der Stromverbrauch in der Türkei Prognosen zufolge jährlich um gut sechs Prozent wachsen.
Um die Investitionen und das neun Prozent einer Jahreswirtschaftsleistung entsprechende Loch in der Zahlungsbilanz zu finanzieren, braucht die Türkei weiter Milliarden aus dem Ausland. Doch angesichts der weltweiten Unsicherheit werden Anleger auch am Bosporus vorsichtiger. Statt einer Aufwertung, wie sie das hohe Wirtschaftswachstum vordergründig rechtfertigen würde, verlor die türkische Lira seit Jahresanfang gegenüber dem Euro ein Fünftel ihres Wertes. Auch die Istanbuler Börse stürzte ab.
Risiken lauern nicht nur an der Börse. In Libyen oder Syrien hängen milliardenschwere türkische Aufträge wegen der Aufstände gegen die Diktatoren Gaddhafi und Assad in der Luft. Zudem gehen immer noch 48 Prozent aller türkischen Exporte in EU-Länder – ein Zehntel aller Ausfuhren allein an den wichtigsten Handelspartner Deutschland.
Fällt Europa oder gar der wirtschaftliche Motor Deutschland in die Rezession zurück, würde dies sowohl den türkischen Tourismus treffen wie „türkische Exporte verringern und einen negativen Effekt auf die Beschäftigung haben“, warnte die türkische Arbeitgebervereinigung Ende Juli.
Schon ließ Regierungschef Erdogan die Minister für Finanzen und Industrie beteuern, die Regierung plane nicht, die Staatsausgaben zu kürzen. „Wir können keine Entwicklungen erlauben, die eine Rezession in der türkischen Wirtschaft hervorrufen“, sagte Industrieminister Nihat Ergun. Ob das tatsächlich in der Macht der Regierung in Ankara steht, ist freilich eine ganz andere Frage.