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Schamanen vom Bosporus

Ein furioses Spiel mit Traditionen: Die Band Baba Zula macht die Musik für das moderne Istanbul

Mittwoch 12. Oktober 2011, von Daniel Bax

Von den späten Sechzigern bis Ende der Siebziger war Istanbul ein beliebter Zwischenstopp auf dem legendären »Hippie-Trail«. Tausende Traveller, die auf dem Landweg ins indische Goa oder nach Kathmandu reisten, machten hier Station. Der große Treck des alternativen Tourismus fand damals auch in der Türkei sein Echo, als Musiker wie Erkin Koray oder Orhan Gencebay begannen, nach dem Vorbild westlicher Rockbands ihre Saz, die traditionelle Langhalslaute Anatoliens, elektrisch zu verstärken. So entstand das Genre des »Anadolu Rock« – Rockmusik mit orientalischen Melodien.

Murat Ertel ist mit dieser Musik aufgewachsen. Zusammen mit dem Percussionisten Cosar Kamci und dem Musiker Levent Akman bildet er Baba Zula, ein Künstlertrio aus Istanbul, das die Tradition des »Anadolu Rock« auf elektronische Weise neu belebt. Sie greifen Rhythmen und Harmonien aus den reichen Traditionen Kleinasiens auf und verbinden sie mit Dub-Effekten und brummenden Bässen zu einem trancehaften Trip in die anatolischen Weiten. Löffelgeklapper trifft auf Loops, dadaistisches Gemurmel auf archaisches Gewimmer, Volkstänze münden in Rave. Eine türkische Variante des Krautrock, der in den Siebzigern die deutsche Musik modernisierte.

Bei ihren unbedingt empfehlenswerten Auftritten werfen sich Baba Zula obendrein gern in folkloristische Fantasie-Kostüme, die an alte Zeiten erinnern, an Märchen, Volkssagen und Legenden. Murat Ertel mit seinen langen Haaren und seinem wilden Bart trägt Kaftan und Filzhut, während sich Elena Hristova, die bulgarischstämmige Sängerin, in anatolischer Frauentracht kleidet. Die Assoziation mit heidnischen Riten ist beabsichtigt: »Wir betrachten uns als elektrische Schamanen des 21. Jahrhunderts«, stellt Murat Ertel am Rand eines Auftritts im funktionalen Hinterzimmer des Veranstaltungsorts klar.

Wer Fatih Akins Istanbul-Musikdoku Crossing the Bridge gesehen hat, dem dürfte die Szene in Erinnerung geblieben sein, in der Baba Zula auf einem Schiff den Bosporus herunterschippern, dem Sonnenuntergang entgegen. Nicht jeder weiß allerdings, dass Murat Ertel aus einer der prominentesten Familien der Türkei stammt: Sein Vater Mengü war ein namhafter Grafiker, sein Onkel Ilhan Selcuk ein berühmter Journalist, der andere Onkel ein gefeierter Karikaturist. Zu Hause ging die Kulturelite des Landes ein und aus.

Häufig zu Gast war der Bassist Ahmet Güvenc, der mit Bunalim die erste psychedelische Rockband der Türkei begründete. Regelmäßig schaute auch der Volkssänger Ruhi Su vorbei, der für die Türkei so etwas Ähnliches war wie Woodie Guthrie für den amerikanischen Folk: Selbst noch als Wandersänger unterwegs, archivierte und vertonte er die Lieder der anatolischen »Asik«-Barden, der »Liebenden«, wie sie genannt wurden. »Mein Vater hat die Cover für seine Schallplatten-Alben gestaltet«, erzählt Murat Ertel nicht ohne Stolz. »Ruhi Su hat sehr konzeptionell gedacht.«

Auch Baba Zula sind das, was man eine Konzeptband nennt. Der Titel ihres aktuellen Albums Gecekondu bezieht sich auf die Barackensiedlungen am Rande der türkischen Metropolen, die meist »über Nacht erbaut« wurden, daher der Name. Bei Baba Zula steht Gecekondu allerdings weniger für den realen Ort, gemeint ist eher eine Metapher für den kreativen Umgang mit Traditionen und Zivilisationsmüll, für das urbane Leben zwischen Asphalt und Beton. Die Illustrationen auf dem Cover von Gecekondu stammen von einem Bühnenbild, das sein Vater ursprünglich für eines der erfolgreichsten Bühnenstücke der türkischen Theatergeschichte gestaltete: Als Kind hatte Murat Ertel in den sechziger Jahren die »Ballade von Ali aus Kesan« gesehen, eine Moritat über Mord und Totschlag in einer Armensiedlung Istanbuls.

Für alle, die die Zeichen lesen können, bietet Gecekondu eine Fülle solcher Anspielungen, die Musik ist voller Verweise und Bezüge. Der Titel Abdül Canbaz etwa ist eine Hommage an eine Cartoon-Figur, die Murats verstorbener Onkel einst erfand: ein osmanischer Bürger mit Fez und gewachstem Schnurrbart, der auf einem altmodischen Hochrad unterwegs war. Und das furiose, achtminütige Hopce basiert auf dem 9/8-Takt des Zeybek, eines türkischen Volkstanzes aus der Ägäisregion. Der Name leitet sich von einem Kriegerstamm aus den Bergen Westanatoliens ab, die einst gegen osmanische Herrschaft rebellierten.

Wer will, kann darin einen versteckten Protest gegen die islamisch-konservative AKP-Regierung erkennen, die das Osmanenreich gerne nostalgisch verklärt. Für alle anderen ist Gecekondu schlicht eine flirrende und vielschichtige Orient-Fantasie der urbanen Art. Oder, wie es Murat Ertel selbstbewusst, aber treffend ausdrückt: »Es ist wie ein Eisberg, von dem man nur die Spitze sieht. Aber man weiß, dass unter der Wasseroberfläche noch eine Menge versteckt liegt.«

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Quellen

Source : Zeit Online, 15.09.2011

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